Stammformen und Stammgruppen

Hans-Heinrich Lieb lieb at ZEDAT.FU-BERLIN.DE
Mon Apr 28 12:45:56 UTC 2008


Liebe Kollegen,

es handelt sich hier tatsächlich um etwas, was ich in meiner revidierten 
Wortbildungstheorie zwar bedacht, aber nie formuliert habe.

Gegen Noldas Beispiel könnte man noch Einwände erheben, ich möchte es daher 
durch ein anderes ersetzen, welches das Problem unwiderleglich aufwirft: 
anlasserW, beim Auto, "Instrument zum Starten des Motors".

Wortbildungsmäßig MUSS dies von anlassenW hergeleitet werden, nicht 
umgekehrt.

er-Bildungen lassen Stammgruppen als Basis zu, aber eine Stammgruppe ist hier 
sowohl im Hinblick auf die eben genannte Forderung unplausibel als auch im 
Hinblick auf die in ihr auftretenden morphologischen Funktionen und deren 
eventuellen semantischen Gehalt: Die Stammgruppe MÜSSTE die Bedeutung "Motor 
starten" haben, die sich kompositionell nicht mehr ergibt.

Andererseits läßt die Theorie Stammformen zu, die keine Flexionsformen sind, 
und verlangt auch nicht, daß es in jedem Lexemparadigma Flexionsformen gibt 
oder daß es zu jedem Stammformparadigman ein entsprechendes Wortparadigma 
geben muß. (Umgekehrt hat jedes nicht-idiomatische Wortparadigma genau ein 
Stammformen-Paradigma.)

Somit setze ich eine Stammform an1 lass2 an.

Diese Stammform wird durch Abkürzung (ein Stammform-Bildungsprozeß, in einer 
ihrer beiden Formen) aus der Verbform an1 lassen2 gewonnen. Jeder 
Stammformbildungsprozeß muß (bei Wortbildung) bedeutungsverändernd sein. Bei 
Abkürzung ist diese Bedingung nur scheinbar verletzt; die semantische 
Funktion ist Extensionalisierung, d.h. der Inhalt des neuen Begriffs besteht 
aus der Eigenschaft, zur Extension des alten Begriffs zu gehören; alter und 
neuer Begriff sind damit logisch äquivalent.

Von an1 lass2 mit dieser Bedeutung wird nun durch (morphologische) Derivation 
mit er unter Verwendung einer semantischen Funktion Instrument die Stammform 
an1 lass2 er3 mit der gewünschten Bedeutung gebildet.

Das Beispiel von Herrn Nolda enthält eine unwesentliche Komplikation, 
Auftreten des Umlauts. Dieser kann in der jetzigen Fassung meiner 
Wortbildungstheorie in einem solchen Fall im Zuge der er-Derivation 
eingeführt werden, die auf ein1 kauf2 operiert.

Die formalen Einzelheiten spare ich mir hier. Leider war mein für den 
Sammelband ursprünglich geplanter Beitrag über Wortbildung viel zu lang, so 
daß ich ihn nun in anderm Zusammenhang bringen muß. 



Mit bestem Grüßen,

Hans-Heinrich Lieb



Date sent:      	Mon, 28 Apr 2008 11:18:12 +0200
Send reply to:  	Discussion of topics in Integrational Linguistics
             	<IL-LIST at LISTSERV.LINGUISTLIST.ORG>
From:           	Andreas Nolda <andreas.nolda at CMS.HU-BERLIN.DE>
Organization:   	Humboldt-Universität zu Berlin
Subject:        	Stammformen und Stammgruppen
To:             	IL-LIST at LISTSERV.LINGUISTLIST.ORG

Liebe Kollegen,

nach der gängigen IL-Analyse sind Partikelverben wie _einkaufen_W das 
Produkt einer syntaktischen Wortbildung: Die einfachen Formen von 
_einkaufen_W sind gebildet durch Verkettung der Partikel _ein_1 mit 
einer (bereits morphologisch flektierten) einfachen Form von 
_kaufen_W. (Vgl. z. B. Lieb 2006 zu _aufwachen_W.) Die einfachen 
Formen von _einkaufen_W sind somit alle syntaktisch zweigliedrig: 
_ein_1 _kaufen_2, _ein_1 _kaufe_2 usw.

Daraus folgt, dass es zu _einkaufen_W keine Flexionsstammformen gibt, 
die _ein_1 enthalten: _einkaufen_W wird nur syntaktisch flektiert zur 
Bildung seiner zusammengesetzten Formen; seine einfachen Formen sind 
ja das Ergebnis der Verkettung von _ein_1 mit den einfachen Formen 
von _kaufen_W.

Bei der _-er_-Suffigierung tritt allerdings die Basis _ein_1 _käuf_2 
auf (mit dem Derivationsprodukt _Einkäufer_W). Es stellt sich nun die 
Frage nach dem Status von _ein_1 _käuf_2. Ist dies eine Stammform
(eine Wortbildungsstammform) eines Lexems _einkauf_L, das somit zwar 
(mindestens) eine Wortbildungsstammform hätte, aber keine 
Flexionsstammformen? Oder ist _ein_1 _käuf_2 eine Stammgruppe, die 
von keinem Lexem eine Stammform ist? In diesem Fall wäre die Bildung 
von _Einkäufer_W weniger einer _-er_-Derivation vom Typ _Verkäufer_W 
ähnlich als vielmehr einer Zusammenbildung vom Typ _Staubsauger_W.

Wie sehen das die anderen Listenabonnenten?

Mit besten Grüßen,

Andreas Nolda

Lieb, Hans-Heinrich (2006). "Wortbildung auf morphologischer und
   Wortbildung auf syntaktischer Grundlage". Vortrag an der 28.
   Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft in
   Bielefeld vom 23. Februar 2006.
-- 
Dr. Andreas Nolda           http://www.linguistik.hu-berlin.de/~nolda/

Humboldt-Universität zu Berlin
Philosophische Fakultät II
Institut für deutsche Sprache und Linguistik

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 Prof. Dr. Hans-Heinrich Lieb
 FREIE UNIVERSITÄT BERLIN
 FB Philosophie und Geisteswissenschaften
 Institut für Deutsche und Niederländische Philologie
 Habelschwerdter Allee 45
 14195 BERLIN

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 Sekretariat (030) 838-54233
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