Stammformen und Stammgruppen

Monika Budde monika.budde at TU-BERLIN.DE
Wed May 7 13:45:49 UTC 2008


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Liebe Kollegen,

die letzte Diskussion -- ein Lexem _ein_ _kauf_-L als Abkürzung zu dem
Wort _ein_ _kaufen_W oder als Verknüpfung von Partikel (oder
Partikelstamm?) und Verbstamm, jeweils vermittelt über die entsprechenden
Beziehungen zwischen den Formen -- wirft eine grundsätzliche Frage auf:
die nach dem Status von (Wortbildungs-)Prozessen. Beschreibungstechnisch
lassen Prozesse sich durch Relationen modellieren. Doch wenn diese
Relationen mehr sein sollen als theoretische Konstrukte, muss man m.E.
genauer werden: Wenn die Relationen einen (dynamischen) Prozess erfassen
sollen, soll das Erfaßte (a) ein historischer oder (b) ein psychologischer
Prozess sein? Im zweiten Fall: soll es sich um einen Prozess handeln, der
(b1) in einem Erst-Erzeuger des WB-Produktes, (b2) in einem Erst-Hörer,
(b3) in einem 'wiederholenden Erzeuger', (b4) in einem 'wiederholten
Hörer' stattfindet? In der Literatur dienen Relationen außerdem noch
(teils implizit, teils explizit) zur Beschreibung von (c) (statischem)
Wissen der Sprachbenutzer, das beim Hervorbringen und Verstehen von
Äußerungen eine Rolle spielt, wobei ich persönlich vorsichtig sein würde
und das Wissen beim Hervorbringen nicht von vornherein mit dem Wissen beim
Verstehen identifizieren würde.

Wenn ich nichts übersehen habe, dann besteht innerhalb der IL inzwischen
Einigkeit darüber, dass wir neben Konstituentenstrukturen der einen oder
anderen Art WB-Relationen als mittelbare oder unmittelbare
Idiolektsystem-Komponenten benötigen. Als solche sind WB-Relationen
zunächst einmal extramentale Objekte. Und ohne Zusatzforderungen nach (a)
- (c) 'bestehen' im Lexikon sowohl die Abkürzungsrelation nach Lieb wie
die Verknüpfungsrelation nach Nolda: zur Diskussion steht also, (1) ob man
in diesem Fall eine der beiden Relationen als 'relevant' auszeichnen kann,
(2) welches der zugrundeliegende Gesichtspunkt bei dieser Auszeichnung
ist, wobei möglicherweise nach verschiedenen Gesichtspunkten verschiedene
Relationen auszeichnbar sind (die 'Existenz' der in Beziehung gesetzten
Wörter und Stämme darf inzwischen als unabhängig gerechtfertigt gelten, so
dass wir diese hier voraussetzen können: insofern gilt für beide zur
Diskussion stehenden Auffassungen: "zu einigen (oder allen)
'idiomatischen' Wortparadigmen [gibt es] genau ein Stamm-Paradigma"
(Nolda), denn *wenn* es zu einem 'idiomatischen' Wortparadigma ein
Stammparadigma *der fraglichen Art* gibt, dann höchstens eines).

Meine Vermutung: sowohl historische als auch psycholinguistische
Überlegungen bzgl. (b1) und (b2) erlauben es in diesem Fall, die
Abkürzungsrelation auszuzeichnen, und bei Idiomatisierungen wie _ein_
_kaufen_W dürfte sich dies auch durch psycholinguistische Überlegungen
bzgl. (b3), (b4) und (c) stützen lassen.

Zugleich läßt sich das gleichartige 'Funktionieren' von Partikel- und
Präfixverben als Beteiligung an ein und derselben Relation auffassen (bei
den Lexemen sind immer die entsprechenden Verbstämme gemeint):

Es gibt ein R mit:
<_ein_ _kaufen_W, _ein_ _kauf_L> el R,
<_besuchen_W, _be_ _such_L> el R

oder (in der Redeweise der 'Analogisten'):
_ein_ _kaufen_W zu _ein_ _kauf_L wie _besuchen_W zu _be_ _such_L

Der von R erfaßte Zusammenhang dürfte zum Inhalt des Wissens eines
Sprechers des Deutschen gehören, das dieser z.B. beim Verstehen neuer
Wörter ausnutzen kann (Strategien: Suche nach Analogien, Dekomposition):
neben den hier betrachteten Idiomatisierungen gehören zu R auch
volltransparente Wort-Lexem-Paare beiderlei Art (!).

Auf der anderen Seite können wir daneben eine Relation R' annehmen mit:

<_be_ _such_L, _besuchen_W> el R',
<_ein_ _kauf_L, _ein_ _kaufen_W> nicht-el R'

R' könnte die Relation 'ist Wortstamm von / dient zur Bildung der Formen
von' sein.

Damit kann die "morphologische Wortbildung auf der Basis von
'Partikelverb-Stämmen'" in der Tat ganz analog zu der bei
Präfix-Verbstämmen beschrieben werden: Unterschiedlich ist nur die
*Formenbildung* für das über R (rückwärts) verknüpfte Wort: ein Sprecher
kann ganz 'regulär' (mit R) vom Vorkommen des Wortes auf ein Stammlexem
schließen, das er dann als Ausgangspunkt für z.B. _er_-Derivationen
verwenden kann. Dahingegen kann er nur im Falle der Präfixverben aus einem
Stammlexem auch wieder auf das Wort zurückschließen (mit R'), nicht jedoch
im Falle der Partikelverben.

Im nächsten Schritt möchte ich nun dafür plädieren, dass auch die von
Nolda vorgeschlagene Verknüpfungsrelation ihren Sinn hat: Sie erfasst ein
Wissen über Strukturen und strukturelle Zusammenhänge, die sich mit einem
Konstituentenstruktur-Modell (alter Art) gut beschreiben lassen: Das Lexem
_ein_ _kauf_L enthält Stammformen _ein_ _kauf_ und _ein_ _käuf_, denen
eine Strukturbeschreibung zugeordnet werden kann. Wegen der
offensichtlichen Idiomatisierung kann in diesem Fall die Gesamtbedeutung
nicht auf die Bedeutungen der Teile zurückgeführt werden, d.h.: _ein_
_kauf_ usw. sind nicht zugleich StGr (wenn wir wie in der Syntax die XGr
als diejenigen morphologischen Einheiten auffassen, deren Bedeutung sich
nach dem Kompositionalitätsprinzip ergibt).

Auf der anderen Seite können wir in diesem Fall auf die morphologische
Segmentierung wohl kaum verzichten, und zwar deshalb nicht, weil Sprecher
_kauf_2 auch auf ein Lexem _kauf_L beziehen (können). D.h.: wir können
_kauf_2 auch als Vorkommen einer _kauf_L-Form in _ein_ _kauf_ auffassen -
und das heißt: mit einer Markierung, die sich aus dem Paradigma von
_kauf_L in der gewohnten Weise ergibt. Es bleibt also noch der erste Teil
von _ein_ _kauf_ zu beschreiben: ein unikales Element vergleichbar _him_
in _himbeere_ (Unterschied: es gibt noch eine formal vergleichbare
Partikel mit der Bedeutung "hinein", die z.B. in _ein_ _steigen_ vorkommt;
auf diese Partikel scheint das _ein_ in _ein_ _kaufen_ aber synchron - von
Sprechern des Deutschen - nicht mehr bezogen zu werden; die folgende
Überlegung würde aber auch mit dieser "hinein" bedeutenden Partikel
funktionieren).

Zur Beschreibung von _ein_ sehe ich grundsätzlich zwei Möglichkeiten: (i)
Da wir syntaktische Teile von morphologischen Strukturen seinerzeit
zugelassen haben, könnte es sich um das Vorkommen der 'unikalen Partikel'
_ein_W handeln; oder (ii) wir gehen zurück auf den Stamm dieser Partikel,
_ein_L, und hätten dann eine rein-morphologische Struktur. Nolda scheint
(i) im Blick zu haben - und ich selbst neige ebenfalls dazu, ohne bisher
einen wirklich durchschlagenden Grund zu sehen. (i) entspricht der
'Geschichte' des Lexems. Zusammenfassend ergibt sich dann die folgende
Struktur (Markierungsstruktur nur angedeutet):

 __Stf__
 |     |
 Pf   Stf
ein   kauf
...    ...

Mit Bezug auf Strukturen dieser Art besteht dann eine (3-stellige)
Beziehung zwischen _ein_W, _kauf_-L, und _ein_ _kauf_-L. Sofern
Strukturwissen 'psychologisch real' ist, lässt sich also auch diese
Beziehung nach einem (c)-Gesichtspunkt als relevant ausweisen.

Es bleibt noch die Frage der für _ein_ _kauf_-L anzusetzenden
lexikalischen Bedeutung, die jedoch unabhängig von der Frage ist, welche
Beziehungen zwischen den involvierten Wörtern und Lexemen bestehen. Falls
die Annahme, dass Stammformenbildung bei Wortbildung immer
bedeutungsverändernd ist, sich als gut motiviert erweist (s. meinen
gesonderten Beitrag), kann man mit Lieb die Extensionalisierung der
Bedeutung von _ein_ _kaufen_W annehmen (nur extensionale Synonymie): dies
ist einfach die Bedeutung, die den Stammformen in der entsprechenden
morpholog. Paradigmenbasis unmittelbar zugeordnet ist. (Durch die
komplexen Zusammenhänge zwischen syntaktischem und morphologischem Teil
des Lexikons ist die *systematische* Identifizierung der Paradigmenbasen
alles andere als trivial, aber nicht grundsätzlich problematisch.)

Nebenbei zeigen diese Beispiele und die Diskussion, dass mit der neuen
prozessorientierten Sicht die alte strukturorientierte Sicht nicht einfach
obsolet geworden ist: beide haben ihre Berechtigung, da sie jeweils
unterschiedliche Aspekte der Bildung und Gebildetheit von Wörtern zu
erfassen erlauben. Oder anders ausgedrückt: Ich möchte vermeiden, bei der
neuen Sicht das Kind mit dem Bade auszuschütten.

Ich hoffe, dass diese Differenzierungen etwas dazu beitragen konnten, die
Diskussion wegzuführen von pauschalen Einwänden wie "ad hoc" und "unnötige
Verdoppelung" und ungenauen Verweisen ("funktioniert nicht anders als") -
auch wenn mein Beitrag dadurch schon wieder viel länger als geplant
geworden ist.

Viele Grüße
Monika Budde



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