St ärke als funktionale Klassifikation
    Andreas Nolda 
    andreas.nolda at CMS.HU-BERLIN.DE
       
    Fri Mar  3 19:38:13 UTC 2006
    
    
  
Hallo zusammen,
Monika Budde hat in ihrer Disseration (S. 212) bestritten, dass die 
'Stärke'-Klassifikation in der SEO deutscher Idiolektsysteme[1] einen 
funktionalen Status hat. Erstens sei die Unterscheidung
satzsemantisch nicht funktional, und zweitens trage sie nicht zur 
Identifikation der syntaktischen Funktionen bei.
Ich möchte nun vorschlagen, diese Klassifikation so zu modifizieren, 
dass die sich ergebenden Kategorien in einer Grammatik des Deutschen 
im Prinzip auf eine Weise definiert werden können, die zumindest 
*syntaktisch funktional* ist (auf syntaktische Funktionen bezogen 
ist).
Anlass dazu ist die Beobachtung von Bernd Wiese, dass nach einem 
vorangestellten Genitivattribut statt der unflektierten 
Kardinale-Form _ein_ die 'starke' Form _eines_ erscheinen muss:
(1) a.  Claudias eines Kleid (Wiese, pers. Mitt.)
    b. *Claudias ein Kleid
Im vorliegenden Zusammenhang besonders interessant ist, dass _eines_ 
in diesem Kontext keinen Einfluss auf die Form folgender 
Adjektivattribute hat. Wenn überhaupt, so können nur 'starke' Formen 
als Adjektivattribut folgen:
(2) a. ?Caudias eines   langärmliges Kleid
                 'stark' 'stark'
    b. *Claudias eines   langärmlige Kleid
                 'stark' 'schwach'
In anderen Kontexten hingegen folgen auf 'starke' Formen dieses 
Kardinale nur 'schwache' Adjektivattribute:[2]
(3) a.  mit nur einem   langärmligen Kleid
                'stark' 'schwach'
    b. *mit nur einem   langärmligem Kleid
                'stark' 'stark'
Mann kann also unterscheiden zwischen 'starken' Formen mit Einfluss 
auf folgende Adjektivattribute (im Folgenden: *funktional starke 
Formen*) und solchen Formen ohne Einfluss auf folgende 
Adjektivattribute (*nicht funktional starke Formen*). Bei den 
'schwachen' bzw. unflektierten Formen wiederum kann man unterscheiden 
zwischen Formen, die nur nach funktional starken Formen auftreten 
(*funktional schwache Formen*) und solchen, die unabhängig von 
funktional starken Formen vorkommen (*nicht funktional schwachen 
Formen).
Es ergibt sich somit die folgende Klassifikation als Ersatz für die 
bisherige 'Stärke'-Klassifikation:[3]
(4)      'Freiheit'
        +---------+
        |         |
      Frei      N-Frei
        |         |
    'Stärke'  'Schwäche'
     +----+     +----+ 
     |    |     |    |
    St   N-St Schw N-Schw
Frei: 
  kann ohne Artikel oder adjektivischen Modifikator substantivisch
  (insb. als referenzieller Ausdruck) verwendet werden
  umfasst die traditionellen 'starken' Formen
N[icht]-Frei:
  kann nicht ohne Artikel oder adjektivischen Modifikator
  substantivisch verwendet werden
  umfasst die traditionellen 'schwachen' und unflektierten Formen
[Funktional] St[ark]:
  bestimmt folgende adjektivische Modifikatoren kategorial
  Beispiel: _einem_1 wie in _mit einem langärmligen Kleid_
N[icht]-[Funktional] St[ark]:
  bestimmt folgende adjektivische Modifikatoren nicht kategorial
  Beispiele: _rotes_1 wie in _rotes (reißfestes) Garn_
                             _ein rotes (langärmliges) Kleid_
                             _Claudias rotes (langärmliges) Kleid_
             _eines_1 wie in _Claudias eines (langärmliges) Kleid_
[Funktional] Schw[ach]:
  abhängig von einem vorangehenden adjektivischen Modifikator oder
  Artikel der Kategorie [Funktional] St[ark]
  Beispiele: _rote_1 wie in _das rote Garn_
                            _das rote Kleid_
             _eine_1 wie in _das eine Kleid_
N[icht]-[Funktional] Schw[ach]:
  nicht abhängig von einem vorangehenden adjektivischen Modifikator
  oder Artikel der (funktionalen) Kategorie St
  Beispiel: _ein_1 wie in _ein rotes Kleid_
Andreas Nolda
[1] Vgl. die Protokolle zum IL-Colloquium im WS 1997/98.
[2] Vernünftigerweise wird man annehmen, dass _eines_ in (1), _eines_
    in (2) und _einem_ in (3) Formen desselben lexikalischen Worts
    sind.
[3] Sinnvollerweise wird man als Basis der Klassifikation entweder die 
    Menge aller Nf oder die Menge der nicht-analytischen Nf ansetzen,
    da ja auch ein Teil der substantivischen Wörter nach 'Stärke'
    flektiert. Der Einfachheit halber berücksichtige ich hier jedoch
    nur Formen adjektivischer Wörter. Wie die Klassifikation für
    Formen substantivischer Wörter zu verallgemeinern wäre, lasse ich
    vorläufig offen.
-- 
Andreas Nolda      http://www2.hu-berlin.de/linguistik/institut/nolda/
Humboldt-Universität zu Berlin
Philosophische Fakultät II
Institut für deutsche Sprache und Linguistik
    
    
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