Participles and the General Valency Hypotheses

Hans-Heinrich Lieb lieb at ZEDAT.FU-BERLIN.DE
Tue Oct 16 12:40:35 UTC 2007


NACHTRAG ZU MEINEM GESTRIGEN E-BRIEF



Liebe Kollegen,

zur völligen Absicherung meiner Analyse, wie ich Sie Ihnen gestern in meiner 
Reaktion auf Herrn Noldas Reaktion mitgeteilt habe und die, wie ich meine, 
einstweilen steht, fehlt die Analyse einer dritten Konstruktion, nämlich des 
Zustandspassivs, dessen Existenz allerdings umstritten ist. Als Beispiel 
wähle ich Sätze mit Herrn Noldas *widmen*W.

1.

Ich setze ein Zustandspassiv u.a. aus folgendem Grund an. Man hat häufiger 
bemerkt, daß Nominalgruppen wie "das ihm von Fritz gewidmete Buch" 
einwandfrei sind, daß dagegen Sätze wie "Endlich ist ihm das Buch von Fritz 
gewidmet" (NICHT verstanden als elliptisch für "Endlich ist ihm das Buch von 
Fritz gewidmet worden") fragwürdig sind wegen der von-Gruppe; vgl. dagegen 
das einwandfreie "Endlich ist ihm das Buch gewidmet". Ich schließe hieraus 
(es gibt weitere Gründe), daß in Sätzen der zweiten Art ein 
Partizipialadjektiv - hier *gewidmet*W - NICHT gebraucht ist, daß es sich 
also nicht um Copulaverb-Konstruktionen handelt. Die Partizipialadjektive 
betrachte ich somit als rein attributive Adjektive und nehme in Sätzen der 
zweiten Art Verbformen an, eben Formen des Zustandspassivs. (Natürlich kann 
bei den Partizipialadjektiven durch Lexikalisierung ein Volladjektiv 
entstehen, z.B. scheint es ein Wort *geöffnet*W mit etwa der Bedeutung 
.offen. zu geben.)

2.

Als Interpretation für Partizip bei Präteritum hatte ich im Hinblick auf 
Partizipialsätze (also Verbgruppen) die folgenden Funktionen angesetzt: 
sein n (werden n+1), z.B. sein3(werden4) bei *gewidmet*-Vorkommen. 
(Historisch gesehen ist sein3 zurückzuführen auf das Auftreten des 
'perfektiven' gi/ga im Ahd. zur Bildung von Partizipien des Präteritums ohne 
gi/ga, fast völlig durchgeführt außer bei einer Handvoll Verben, die selber 
schon perfektive Bedeutung haben.)

Man könnte nun meinen, sein n (werden n+1) seien auch angemessene 
Interpretationen für die Kategorie Zustandspassiv. Ich halte dies jedoch für 
unzutreffend. Zwar müssen die werden-Funktionen wiederum zugrunde liegen, 
aber die sein-Funktionen, mit denen eine Vollendungszeit für das 
Verbgeschehen existentiell eingeführt wird, möchte ich durch Funktionen 
eines anderen Typs ersetzen. 

3.

Betrachten wir den folgenden Satz:

(1) Das Buch war ihm seit drei Jahren gewidmet.

Dies läßt sich paraphrasieren als:

(2) Es gibt eine Zeit t und eine Zeit t1, so daß t früher ist als die 
    Äußerungszeit und t1 drei Jahre vor t liegt und es ein bei t1
    vollendetes Widmen von jemandem mit dem Buch und ihm gibt.

Genauer formuliert:

(3) (Ax2)(Ax3)(Ref V1 *das1 buch2* V x2  &  Ref V1 *ihm4* V x3

    -->  (Et)(Et1)
          
         ((Ax4)(<x4, teil(*war3 gewidmet8*, V),  V1> € Corr  --> 
               <t, x4> € Früher)

          &  t1 hat 'seit5 drei6 Jahren7'(-,t,V,V1)
                  
          &  (Ex)(Ex1)(<x, x1, x2, x3> € u.widmen. geschnitten mit
                       reb(...) & <x, t1> € Vollendet))) 


Falls dies angemessen ist, erklärt sich die Schwierigkeit, die in solchen 
Sätzen für von-Gruppen zur Kennzeichnung eines Agens  besteht: Direkt 
behauptet wird die Existenz einer Zeit t und nur indirekt die Existenz einer 
Handlung x.

4. 

Die anzuwendenden semantischen Funktionen ergeben sich aus dem Folgenden: 

(4) WERDEN4(.widmen.) = lambda x x2 x3: (Ex1)<x, x1, x2, x3> € u.widmen.

(5) NACH3(werden4(.widmen.)) = lambda t1 x2 x3: (Ex)(<x, x2, x3> € 
    u(werden4(.widmen.) & <x, t1> € Vollendet)

An Stelle der Funktionen sein-n treten Funktionen nach-n auf, z.B. nach3, die 
in gewisser Weise umgekehrt wie diese funktionieren: An der Handlungsstelle 
wird existentielle Bindung angewandt und die Vollendenszeit wird durch eine 
freie Variable repräsentiert.

5.

Der entscheidende Nachsatz in Formel (3) läßt sich nun folgendermaßen 
ausdrücken:

(6) (Et)(Et1)

    ((Ax4)(...)

     &  t1 hat ...

     &  <t1, x2, x3> € u(nach3(werden4(.widmen.))) geschnitten mit 
        reb(*war3 gewidmet8*, V, V1, nach3(werden4(.widmen.)))

6.

Zum Kompositionsprozeß:

Die Funktion nach3(werden4)) erscheint - ebenso wie Funktionen mit anderem n -
in der Kategorieninterpretation bei Zustandspassiv. (Wenn Zustandspassiv 
ersetzt wird durch zwei Kategorien: Passiv und Terminativ, erscheint werden4 
bei Passiv und nach3 bei Terminativ.) Die existentielle Bindung für die 
Zeitvariablen ist wieder ein Effekt von nucleus. Gewisse Annahmen zum 
Verhältnis von Referenzbasen sind erforderlich.

ZUSAMMENFASSUNG

Nach meinen Vorschlägen sind im Zusammenhang mit Partizipien des Präteritums 
die folgenden Fälle zu unterscheiden:

a.  Eine Partizipialform kommt als Hauptteil einer Form des
    Zustandspassivs vor.

b.  Eine Partizipialform kommt verbal als Nukleus eines sog. 
    Partizipialsatzes vor.

c.  Eine Partizipialform kommt flektiert als Form eines (nur 
    attributiven) Partizipialadjektivs vor.

Nach meinen Analysen ist es ein Fehler, für alle drei Fälle eine gemeinsame 
Behandung anzustreben. 

ERGÄNZUNG

Bisher habe ich als Ausgangspunkt nur Verben mit persönlichem Passiv 
betrachtet. Die Fälle (b) und (c) kommen außerdem nur noch bei Verben vor, 
die ihre zusammengesetzten Tempora (außer Futur I) mit *sein* bilden. 
Ausnahme: das Copulaverb *sein*W selber. Bei dem Copulaverb *werden*W ist 
außerdem die Möglichkeit von Ellipse bei (b) zu beachten. Dies führt 
scheinbar zu Adjektivgruppen in Analogie zu Partizipialsätzen: "Vom vielen 
Regen morsch, brach die Treppe." mit der Wortfolge "vom vielen regen morsch l 
brach die treppe", mit "l" für "geworden". (Man beachte die unterschiedliche 
Intonation bei "Morsch, brach die Treppe" gegenüber "Morsch brach die Treppe" 
und der Bedeutung "morsch geworden" im ersten und "morsch" im zweiten Fall, 
bei unterschiedlichen syntaktischen Strukturen.)

Eine analoge Untersuchung zum Infinitiv erscheint mir angebracht.

  

                             E   N   D   E

 

Mit den besten Grüßen,


Hans-Heinrich Lieb

    

 

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 Prof. Dr. Hans-Heinrich Lieb
 FREIE UNIVERSITÄT BERLIN
 FB Philosophie und Geisteswissenschaften
 Institut für Deutsche und Niederländische Philologie
 Habelschwerdter Allee 45
 14195 BERLIN

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 lieb at zedat.fu-berlin.de
 Sekretariat (030) 838-54233
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