LL-L "Language politics" 2010.08.01 (06) [DE]

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Mon Aug 2 03:02:29 UTC 2010


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*L O W L A N D S - L - 01 August 2010 - Volume 06*
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From: Marcus Buck <list at marcusbuck.org>

Subject: LL-L "Language politics" 2010.08.01 (05) [DE-NDS]



From: M.-L. Lessing <marless at gmx.de>

Subject: LL-L "Language politics" 2010.07.31 (02) [NDS]



Liebe Leute, ich würde gern über diesen Vorstoß "Deutsch ins Grundgesetz"
noch etwas mehr Meinung gemeinsam mit Euch bilden, denn meine bisherige
Meinung ist nicht so eindeutig, wie es hier zu sein scheint, und mich
überrascht diese Einhelligkeit.



"Deutsch ins Grundgesetz" ist in der Tat nicht gegen die Sprachminderheiten
gerichtet. Der Grund, warum es von den Plattdeutschen hier einhellig
abgelehnt wird (und ich zähle mich zu den Anlehnenden) ist vermutlich der,
dass - auch wenn es von der Intention nicht gegen uns gerichtet ist und uns
in der Praxis nicht wirklich schadet (da die staatliche Förderung trotz der
schönen Charta ungefähr gleich null ist, und von null kann man nicht mehr
reduzieren) - die grundgesetzliche Festlegung ein feindseliger Akt gegen uns
ist. Und sei es nur durch das Ignorieren unserer Existenz.

Die Charta ist ein Stück Papier, das in einem Aktenschrank in Straßburg
liegt. Die regelmäßigen Monitoring-Berichte, die erfassen, ob und in welchem
Maße die Verpflichtungen (die sowieso nicht einklagbar sind) durch die
einzelnen Staaten erfüllt werden, sind im Falle der Bundesrepublik
Deutschland und des Plattdeutschen katastrophal. Hier der Bericht des
Sachverständigenausschusses:
<http://www.coe.int/t/dg4/education/minlang/Report/EvaluationReports/GermanyECRML3_de.pdf><http://www.coe.int/t/dg4/education/minlang/Report/EvaluationReports/GermanyECRML3_de.pdf>.
Man möge in dem PDF mal nach den Worten "nicht erfüllt" suchen. Die
Zeichenfolge kommt circa 175 mal vor. Die Charta ist natürlich eine tolle
Sache um in "Dialekt vs. Sprache"-Diskussionen mit etwas Offiziellem
auftrumpfen zu können, aber politisch hat sie kaum Wert.

In den großen Meinungsbildungsorganen kommen bei der Diskussion um den
Grundgesetz-Status des Deutschen die Minderheitensprachen nicht vor. Die
Diskussion dreht sich stets um Deutsch als (einzige in der Wahrnehmung
relevante) Sprache der Einheimischen auf der einen Seite und
Einwanderersprachen auf der anderen Seite. Und das ist ganz fatal. Die
Plattdeutschen (und die anderen Minderheitensprachler) müssen in der
Diskussion aufmucken und sich bemerkbar machen! Wo ist das INS? Wo ist der
Bundesrat für Niederdeutsch? Warum seh ich keinen Reinhard Goltz (oder
andere) in den Talkrunden des deutschen Fernsehen, die deutlich machen, dass
da mehr existiert als nur "Deutsch"? Die Verfassungsrang für alle
autochthonen Sprachen fordern? Niederdeutsch ins Grundgesetz!

Wenn du fragst, wovor haben die Leute Angst, dann ist die Antwort: davor,
dass die "Ausländer" mit ihrer Kinderquote >2.0 die "Deutschen" mit
Kinderquote deutlich <2.0 in einigen Jahrzehnten so überrunden, dass sie die
Mehrheit stellen und den Deutschen ausländische Kultur aufzwingen. Der
Versuch Deutsch zur Verfassungssprache zu machen, ist kein logisch basierter
Lösungsansatz, wie man diese Entwicklung verhindert, sondern ein hilfloser
und mehr von Hysterie als von Verstand geleiteter Versuch, an den Symptomen
rumzudoktern, weil man an den Ursachen nichts ändern kann. (So ähnlich wie
bei den Schweizern, die die Minarette verbieten wollen. Niemand glaubt
wirklich, dass man durch Verbieten des architektonischen Symptoms "Minarett"
das zugrundeliegende Problem der "Überfremdung" lösen kann, aber da man das
Grundproblem nicht lösen kann [zumindest nicht ohne zum Nazi zu werden],
belässt man es halt beim Bekämpfen der Symptome.)

Die Ängste der Menschen sind weitgehend unbegründet. Ein klar denkender
Mensch muss erkennen, dass die Macht der Assimiliation viel größer ist als
die Macht der Immigration oder der Reproduktion. Die zweite Generation ist
in der Regel soweit assimiliert, dass sie akzentfreies, perfektes Deutsch
spricht. Plattdeutsch wurde durch die Macht der nationalen Assimilation
innerhalb weniger Jahrzehnte von einer 20-Millionen-Sprache auf einen
Bruchteil reduziert. Wenn die Assimilation machtvoll genug ist, um 20
Millionen Menschen, die im Block siedelten, niemals migriert sind und auf
2000 Jahre Kulturgeschichte in ihrem Gebiet zurückblicken, innerhalb zweier
Generationen quasi auszulöschen, wie kann da irgendjemand zweifeln, dass die
Assimilation es fertigbringt, 3 Millionen Türken, die verstreut zwischen 80
Millionen Deutschsprachigen leben, zu assimilieren? Aber existenzielle
Ängste basieren eben nicht auf Verstand.

 Welche Folgen, ganz konkret, würde so ein Grundgesetzeintrag haben?



Genausoviel wie die Anerkennung des Plattdeutschen durch die Charta: keine.
Es hat nur Symbolwert. Deutsch ist bereits jetzt durch diverse Gesetze als
Amtssprache festgelegt:
<http://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Sprache#Verbreitung_als_Muttersprache_und_rechtlicher_Status><http://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Sprache#Verbreitung_als_Muttersprache_und_rechtlicher_Status>
.

 Die Problemstellen, die mir selber einfallen, sind diese: Einerseits ist da
das furchtbare Germish.



Germish wird von Posern verwendet, die sich das Label "Yeah, ich bin cool"
ans Shirt pinnen wollen. Aber das ist Sprachwandel und keine existenzielle
Bedrohung des Deutschen. Die aktuelle Englisch-Flut, ist nicht die erste
Fremdwörterflut, die das Deutsche erlebt hat. "Problem", "aktuell",
"existenziell" sind Wörter, die in einer Zeit in die deutsche Sprache
aufgenommen wurden, als jeder, der etwas auf seine Bildung hielt,
Latein-Kenntnisse haben musste. Wer damals kein Latein konnte, war ungefähr
in der Lage, wie jemand der heutzutage kein Englisch kann: man wurde
gegebenenfalls belächelt. (Ich finde es immer wieder toll, wenn in alten
Büchern absätzeweise unübersetzte lateinische Zitate gebracht werden. Trotz
mehreren Jahren Schullatein steh ich dann wie der Ochs vorm Berg. Aber
früher wurde eben vorausgesetzt, dass man fließend Latein konnte, wenn man
sich mit Wissenschaft beschäftigt.) Eine zweite solche Periode war die
"alamodische" Zeit, als Kenntnisse verfeinerter französischer Kultur absolut
hip waren und niemand der ernstgenommen werden wollte, um Französisch
herumkam. Wenn man Texte dieser Perioden liest, dann kommt man sich vor wie
in einem Kuriositätenkabinett merkwürdiger Vokabeln. Die meisten der Importe
sind schnell wieder verschwunden. Nur wenige sind hängen geblieben. Die
skandinavischen Sprachen haben ja bekanntlich einen Anteil von circa 50 %
Import-Vokabeln aus dem Niederdeutschen der Hanse. Und trotzdem haben sie
ihren skandinavischen Charakter nicht verloren. Deutsch wird also durch
Denglisch oder Germish nicht untergehen.

(Wobei ich das Denglisch nicht verteidigen will. Ich versuche es ebenfalls
zu vermeiden.)

 Als Zweites fällt mir ein, dass es mit der Integration bestimmter
Zuwanderergruppen besser verlaufen könnte, wenn es z.B. in D nicht mehr
möglich wäre, den (deutschen) Führerschein in fremdsprachigen Prüfungen
abzulegen.



"Integration" ist Euphemismus für (erwartete) Assimilation. Was erwartest
du, sollte sich ändern, wenn man fremdsprachige Prüfungen abschafft? Wer
macht denn solche Prüfungen? Ich würde zwei Gruppen erwarten: a) frische
Neuankommlinge, die noch nicht die Gelegenheit hatten, die einheimische
Sprache zu lernen, b) Hausfrauen, die in ihren Kontakten stets auf die
Familie und Landsleute der alten Heimat beschränkt waren und deshalb nie
veranlasst waren, die einheimische Sprache zu lernen. a) machst du das Leben
schwer, obwohl sie vermutlich sehr bereitwillig sind, die Sprache zu lernen.
Und b) machst du ebenfalls das Leben schwer, ohne dass sich ihr Antrieb, die
Sprache zu lernen, dadurch erhöhen würde. Die verzichten dann eben auf ihre
Chance, durch höhere Mobilität ihre relative Isolation aufzuheben. Es gibt
dabei nur Verlierer.

Da wir ja beim Thema "Überfremdung" sind, noch eine Schlussbemerkung:
Ich bin kein Fan von interkultureller Migration. Auch ich habe manchmal
irrationale Ängste vor Überfremdung. Ich erlebe als Dorfbewohner die
Überfremdung am eigenen Leibe. Nicht Überfremdung durch "Ausländer", sondern
durch deutsche "Zugezogene". Alte Dorfgemeinschaft zerfällt. Das ist im
Grunde genau das gleiche wie die Immigration auf nationalem Level, halt nur
in der Mikroversion.

Was mich immer wundert: dass die Menschen so wenig nachdenken über die
Zusammenhänge des Ganzen. Die Leute ärgern sich, wenn Unternehmen
Arbeitsplätze nach Indien verlagern. Und die Leute ärgern sich auch, wenn
Inder nach Deutschland einwandern. Warum wandern Menschen in Deutschland ein
und lassen Familie, Freunde, vertraute Sprache und vertraute Umgebung
zurück? Weil sie sich eine wirtschaftlich bessere Lage erhoffen. Was ist
also die beste Strategie, wenn man die Einwanderung verringern will? Die
wirtschaftliche Lage in den Heimatländern zu verbessern. Und trotzdem sind
es gerade die Leute, die sich am stärksten an der Einwanderung stören, die
auch am stärksten Wirtschaftsprotektionismus befürworten und den Wohlstand
nicht teilen wollen. Es ist absurd.

Marcus Buck



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