Stammformen und Stammgruppen
Monika Budde
monika.budde at TU-BERLIN.DE
Thu May 1 14:48:35 UTC 2008
Liebe Kollegen,
zunächst zu den Fragen von Herrn Nolda:
>Muss jedes Stammformparadigma zugleich das Paradigma eines Lexems
>sein? Anders formuliert: Muss es zu jedem Stammformparadigma
>(mindestens) ein Lexem geben? Aus theoretischen Gründen wäre dies
>wünschenswert.
Wenn dies aufgegeben wird, dann würde "Lexem" nicht mehr analog zu
"Lexikalisches Wort (LW)" definiert werden können - und ich wage zu
bezweifeln, ob dann überhaupt noch eine überzeugende Definition für
"Lexem" möglich ist. Die Definierbarkeit von "Lex. Wort" und implizit auch
von "Lexem" sowie der definitorische Zusammenhang mit den Paradigmen
gehört m.E. zu den wirklich bahnbrechenden Ergebnissen von Lieb (1992)
["Paradigma und Klassifikation..." in ZS 11, S. 3-46]. Dies aufzugeben
würde heißen, ein, wenn nicht sogar das Herzstück der IL-Theorie des
Lexikons aufzugeben.
Zu dem Beispiel _auf_ _tischen_W:
Die Lösung von Herrn Lieb ist m.E. noch nicht ganz befriedigend:
>1. Das (intransitive) Verb tischenW in der Bedeutung .tisch decken. ist in
>manchen Varietäten gebräuchlich (schweiz.), aber nicht in allen, in denen
>auftischenW gebräuchlich ist. Dies bedeutet aber nur, dass im Wortschatz
>grundsätzlich ein nicht-gebräuchlicher Teil zuzulassen ist, was auch
sonst zu
>fordern ist.
Dies ist m.E. (1) ein problematischer Umgang mit dem Problem der
innersprachlichen Variabilität und löst (2) auch das grundsätzliche
Problem, dass Herr Nolda im Blick hatte, nicht: es ist ein Zufall, dass es
(schweizer-)deutsche Idiolektsysteme gibt, in denen es ein Wort _tischen_W
gibt, auf das man in diesem Fall zurückzugreifen erwägen kann. Ich
versuche daher im folgenden zu skizzieren, wie ich selbst das Problem
bisher gelöst habe:
zu (1):
Primär ist der 'Wortschatz eines Idiolekts', also LW(-,S) = die Menge der
lexikalischen Wörter des Idiolektsystems S, davon ableitbar ist der
Wortschatz einer Sprache bzw. Sprachvarietät.
Zu unterscheiden sind zwei (echte) Teilmengen von LW(-,S):
- das (endliche) Basislexikon von S = die Menge der wortbildungsmäßig
synchron nicht herleitbaren Wörter (unterschiedliche Idiomatisierungsgrade
sind zuzulassen, insbesondere kann es eine nur noch formale Transparenz
geben); zwischen Elementen des Basislexikons können der Wortbildung
ähnelnde Beziehungen bestehen, insbesondere dann, wenn die Idiomatisierung
nur partiell ist (Bsp.: _ein_ _kaufen_W zu _kaufen_W)
- das (endliche) Gebrauchslexikon von S = die Menge der (für einen jeden
Benutzer von S) usualisierten Wörter, d.h. durch Usualisierung verändert
sich ein Idiolektsystem S_1 zu einem Idiolektsystem S_2, es wird nicht
einfach nur ein unterschiedlicher Gebrauch von ein und demselben
Idiolektsystem gemacht. (Dieser Punkt ist im folgenden nicht wesentlich:
hiervon hängt nur ab, ob man das folgende im 'systematischen' oder im
pragmatischen Teil einer Theorie des Lexikons ansiedelt - mir ist noch
nicht ganz klar, was davon vorzuziehen ist. Wenn man Blockierung als
System-bezogenes und nicht als pragmatisches Phänomen ansieht, wird man
Usualisierung wohl ebenfalls als System-bezogenes Phänomen behandeln
wollen.)
Die Endlichkeit ergibt sich aus der Endlichkeit eines jeden
Speichermediums (Usualisierung ist eine Art von Speicherung). LW(-,S) ist
dahingegen für deutsche gegenwartssprachliche Idiolektsysteme
grundsätzlich unendlich (u.a. wegen der Rekursivität der Komposition im
Deutschen).
Es gilt:
Gebrauchslexikon(-,S) ohne Basislexikon(-,S) = die Menge der
wortbildungsmäßig volltransparenten usualisierten Wortbildungen
(unabhängig von der Art der Wortbildung).
LW(-,S) ohne Gebrauchslexikon(-,S) = die Menge der wortbildungsmäßig
volltransparenten nicht-usualisierten Wortbildungen
Außerhalb von LW(-,S) liegen nicht-reguläre Ad-hoc-Bildungen, die ggf aber
ebenfalls usualisiert werden können und dann auch als Muster für
Analogie-Bildungen verwendbar werden (_unplattbar_W zu _unkaputtbar_W in
der Werbung für Fahrradreifen mit speziellem Pannenschutz). Genauer: einer
Äußerung mit einer solchen nicht-regulären Ad-hoc-Bildung liegt ein
'Ad-hoc-System' mit einer 'Ad-hoc-Einzelfall-Regel' zugrunde, dem eine
gewisse zeitliche Konstanz der Verwendung fehlt, die man bei
Idiolektsystemen gewöhnlich wohl fordern wird. D.h. Ad-hoc-Bildungen
führen immer über ein bis dahin verwendetes Idiolektsystem S hinaus zu
einem System S'.
Reguläre Konversion SUBST-ST -> VB-ST führt nun m.E. immer nur zu einer
Bedeutung wie 'auf <Subst.-Bedeutung> bezogene Tätigkeit ausführen' (+
Stellen für Valenz). _fischen_W mit der Bedeutung .Fisch(e) fangen. ist
bereits idiomatisiert, ebenso _auf_ _tischen_W.
Nebenbei: als Bedeutungsbeschreibung für _auf_ _tischen_W sollte entgegen
dem Beitrag von Herrn Lieb nicht .tisch decken mit. verwendet werden:
gedeckt werden Tische auch und vor allem mit Geschirr und Besteck (auf
einem gedeckten Tisch können, müssen aber keine Speisen stehen),
aufgetischt wird nur Essbares (jedenfalls kenne und gebrauche ich selbst
diese beiden Verben nur so).
_tischen_W mit der Bedeutung .auf Tisch(e) bezogene Tätigkeit ausführen.
steht nun in jedem deutschen Idiolektsystem S mit dem Substantiv _tisch_W
zur Verfügung. _auf_ _tischen_W ergibt sich aber nicht mehr kompositional
aus _auf_W und _tischen_W.
zu (2):
Bei Analogie-Bildungen zu syntaktischen Bildungen kann es grundsätzlich zu
Wortformen kommen, zu denen nur ein 'sekundäres Lexem' existiert: ein
Lexem, das aus der Wortform rekonstruierbar ist, ihr theoretisch bzgl. der
Wort*formen*bildung auch zugrundeliegt, aber nicht bzgl. der Wortbildung.
Zurecht fragt Herr Nolda:
> ...Hier ist jedoch unklar,
>was die begriffliche Bedeutung einer solchen Stammform sein könnte.
>(Was ist 'auftischen' minus 'auf'?)
M.E. sollte man für solche Lexeme in der Tat solche 'subtraktiven
Begriffe' vorsehen, die mit den besonderen Eigenschaften (Kombinatorik,
Ursprung) unmittelbar zusammenhängen.
>Damit ist ebenfalls unklar, ob
>man für diese Stammformen ein entsprechendes Lexem oder gar ein
>entsprechendes lexikalisches Wort ansetzen kann.
Beides ist m.E. unproblematisch: zum Lexem s.o., und 'gebundene
lexikalische Wörter' sollten mit Blick auf Wendungen vom Typ _fix und
foxi_ ebenfalls grundsätzlich zugelassen werden.
Ich hoffe, das trägt etwas zur Klärung bei.
Viele Grüße
Monika Budde
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